Müll der Geschichte ??

Völkerschlachtdenkmal, auf den Müll der Geschichte
Von Peter Reichel
Zweihundert Jahre Völkerschlacht und hundert Jahre Denkmal: Leipzig erlebt ein denkwürdiges Jubiläumsjahr. Doch mit ihrem üppigen Festprogramm versucht die Stadt, das blutige Gemetzel zu vergessen.
Schon vor mehr als zehn Jahren begann man in Leipzig mit den ersten Vorbereitungen für dieses ungewöhnliche Doppeljubiläum der Superlative: 200 Jahre Völkerschlacht und 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal. Die Säkularfeier...eine Feier zum hundertjährigen Bestehen oder zur 100. Wiederkehr eines Tages der Schlacht – und Einweihung des Denkmals, an der 1913 das ganze Reich und Hunderttausende beteiligt waren, galt damals als das größte Huldigungs- und Volksfest in der zu Ende gehenden Ära Wilhelms II. Die Schlacht war damals die größte, die man bis dahin kannte. Und das Denkmal ist bis heute das größte in Europa.
Vorgaben, die unser eventsüchtiges und gedenkfreudiges Zeitalter verpflichten. Und auf die Leipzig stolz sein könnte – und es wohl doch nicht ist. Wir leben nicht mehr in Zeiten germanischen Größenwahns. Die alte Händlerstadt – und einer der ältesten Messeplätze in Europa – identifiziert sich heute mit dem gläsern-glitzernden Messegelände vor den Toren der Stadt, aber nicht mit der "gigantischen Erektion" (Jenny Holzer) dieses eher peinlichen Granit-Phallus. Und doch: Welche europäische Stadt hat einen so abstoßenden, düsteren Belastungskörper zu bieten, 91 Meter hoch – noch aus 60 Kilometer Entfernung zu sehen?
Und dann das militärische Großereignis, einer der letzten Kabinettskriege, aber doch schon ein europäischer Völkerkrieg. Eine halbe Million Soldaten waren an dem viertägigen Gemetzel beteiligt. Mehr als 120.000 verstümmelte und zerfetzte Körper blieben auf den Schlachtfeldern rund um Leipzig zurück.
Die nach dem Russlanddebakel geschwächte multinationale Armee Napoleons verlor 70.000, die der verbündeten Schweden, Österreicher, Russen und Preußen 50.000 Mann. Noch Tage nach der Schlacht nährten sich hungernde französische Gefangene, herumstreunende Hunde und Krähen von Pferdekadavern und Leichenteilen.
Zur Verherrlichung der Völkerschlacht – und noch rechtzeitig zur mentalen Vorbereitung auf die nächste – fand am Vorabend des Weltkriegs 100 Jahre später das zweite Großereignis statt. Ein Volksfest zur Einweihung dieses Denkmals "nationalen Überstolzes". Tatsächlich nahm das Säkularfest das Ausmaß eines ganzen Jahrhundertfeierjahres ein. Denn der Zufall wollte es, dass Wilhelm II. sein 25-jähriges Regierungsjubiläum feiern konnte. Und der medienbewusste Monarch nutzte die Gunst der Stunde, seinen Friedenswillen, Deutschlands Weltgeltung, militärische Stärke und Verteidigungsbereitschaft zu betonen, wo er konnte. Gefeiert wurde das säkulare Ereignis der Befreiungskriege permanent und im ganzen Land. Dass die martialischen antifranzösischen Parolen von 1913 durch Versöhnungspathos und Friedensgebete ersetzt, das vormalige "Nationalfest der Teutschen" in einem Fest der europäischen Begegnungen aufgehoben und der Kriegskoloss in ein europäisches Friedenssymbol umgewidmet wird?
Schlachtfeldbiwak und Militärmusikparade
Überraschen kann dieser europafreundliche Kraftakt freilich nicht. Schon vor mehr als zehn Jahren wurden dazu im Rathaus und im Stadtmuseum die Weichen gestellt. Schon damals schwenkte auch Leipzig auf jenen Tugendpfad politischer Korrektheit ein, den bereits ein wendiger nordthüringischer Landrat 1996 eingeschlagen hatte, als er eine andere vormals großdeutsch-germanische Kultstätte umstandslos zu einem "Denkmal in Europa" erklärte – den Kyffhäuser, jenen Denkmalsberg, auf dessen "eichenwaldumrauschtem, sagenumwobenem Gipfel das hehre Kaiserdenkmal" steht, mit dem Staufer Barbarossa und dem Hohenzollern Wilhelm I. Sein Erbauer war der Architekt Bruno Schmitz, dem wir auch das Völkerschlachtdenkmal verdanken.
Was aber hat diese Schlacht, die in Frankreich – im Unterschied zur sprichwörtlich gewordenen Niederlage Napoleons bei Waterloo – kaum bekannt ist, in Deutschland so denkmalwürdig gemacht? Was macht sie heute tauglich für eine europäische Gedenkkultur? Warum konnte diese Schlacht für das deutsche Nationalbewusstsein eine so außerordentliche Bedeutung bekommen? Und warum gab es von Beginn an einen erbitterten Kampf um die Deutungsmacht – zwischen Fürstenherrschaft und Freiheitsbewegung, Restauration und Revolution? Im üppigen Festprogramm mit zünftigem Schlachtfeldbiwak und authentischen Gefechtsübungen, mit Kunsthandwerk und Kanonendonner, mit Schlachtfeldwanderungen, Sanitäts- und Lazarettmuseum, mit Militärmusikparade, Jazznacht und Jubiläumsgolf und zum krönenden Abschluss mit einem Ball der Nationen, einem Versöhnungs- und Gedenkgottesdienst und einem ökumenischen Friedensgebet – in diesem kulturellen Leipziger Allerlei kommen geschichtspolitische Fragen allenfalls am Rande vor.
Jede Zeit macht sich einen eigenen Reim
Wer aber von 1813 spricht, darf von Jena und Auerstedt, von Sedan und dem Ersten Weltkrieg nicht schweigen. Und auch den langen Deutungskampf um Völkerschlacht und Denkmal nicht unterschlagen. Erstmals machte Friedrich Ebert, der erste Präsident der Weimarer Republik, den vergeblichen Versuch, die "gewalttätige Sinnlosigkeit" (Joseph Roth) zum Friedenszeichen umzuwidmen. Die Nazis warben mit dem Ungetüm für deutsche "Wehrhaftigkeit, Opfersinn und Volksgemeinschaft". Die DDR machte das Monument zum Symbol deutsch-sowjetischer Freundschaft. Statt Preußenhass zu predigen, posaunte sie zum 150. Jubiläum 1963 propreußische Töne und stilisierte sich zum Vollender progressiver Traditionen, die in den Befreiungskriegen und den preußischen Reformen ihren Ursprung haben. Und nun also Europa, Friede und Versöhnung der Völker als neue Etiketten! Jedes Regime, jede Zeit machen sich ihren eigenen Reim auf diesen "abschreckenden Irrtum" (Joseph Roth) der Geschichte. Dass der monumentalen Misere allein mit verbalen Umdeutungen, Widmungen und frommen Wünschen nicht beizukommen ist, erkannte schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg ein kunstsachverständiger Stadtangestellter.
Ein Weihnachtsbaum wäre schöner gewesen.
Kein alliierter Bomberpilot war offenbar auf die Idee gekommen, seine Ladung über dem Kriegsklotz abzuwerfen statt über Leipzig. So schlug der junge Mann vor, den einst sechs Millionen Goldmark teuren Steinhaufen, der ihm ästhetisch keine fünf Pfennig mehr wert schien, von unten bis oben zu bepflanzen. Welch grandiose Idee, und Leipzig hätte sich früh auf den Weg gemacht zur 'grünen Stadt'. Der junge Mann hatte offenbar ein Gespür dafür, dass am ehesten naturnahe, heitere und unterhaltsame Nutzungen den faschistoiden Granitberg und seine grimmigen Krieger zum Verschwinden bringen. Kaum auszudenken, die Idee mit der Begrünung hätte sich durchgesetzt und den Koloss in ein Biotop verwandelt. Und Leipzig hätte mit dem höchsten Hort für durchreisende Zugvögel – oder dem größten Weihnachtsbaum eine die Touristen anziehende Attraktion bekommen. Wenn weiter nichts geschieht, wird der 300.000 Tonen schwere, wankende Koloss in ein paar Jahrhunderten im Erdboden verschwunden oder auseinandergefallen sein. Seine Erbauer hatten den Denkmalhügel aus einer Müllkippe aufgehäuft.